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Die 6 Zeichen für flow – und ihre Entdeckung durch Mihaly Csikszentmihalyi

Ein 15-jähriger Junge wartet auf den Bus. vor dem Hauptbahnhof Rom herrscht reges Getümmel. Unter dem Arm des Jungen klemmt ein Buch. Er schützt es vor der Menschenmenge wie einen Talisman. Es ist ein Band aus den Werken von Carl Gustav Jung. Trotz des Trubels taucht in dem Jungen plötzlich eine Idee auf, an die er sich Jahrzehnte später erinnern wird: „Carl Jung beschreibt faszinierende Erfahrungen. Warum sollte ich es nicht auch können?”

Hinter der Entdeckung des flow steckt eine Geschichte.

Wir schreiben das Jahr 1948. Der Junge ist mit dem Rest seiner Familie aus Ungarn geflüchtet. Sein Halbbruder fiel in den letzten Kriegstagen bei der sinnlosen Verteidigung Budapests gegen die sowjetischen Truppen. Sein Großvater verhungerte im letzten Kriegswinter im Keller. Der Körper seiner Tante wurde bei einem Artillerie-Angriff zerfetzt, als sie Verletzte versorgte. Der andere Bruder verschwand ohne jede Spur in einem Gulag Arbeitslager [1].

Trotzdem ist der Junge voller Neugier und Hoffnung. Durch seinen Vater spricht er bereits Ungarisch, Italienisch und Deutsch. Dank seiner Mutter Edith interessiert er sich für Literatur, insbesondere für die Schriften von Teilhard de Chardin. Die Familie schlägt sich durch die Nachkriegsjahre. Er arbeitet als Übersetzer, Reiseführer, Obstsammler und Journalist. 1956 wandert er in die USA aus und schreibt sich als Psychologie-Student ein. Der geflüchtete Junge hat in der Wissenschaft ein Zuhause gefunden. Sein Name: Mihaly Csikszentmihalyi.

Vom Vertriebenen zum „Godfather of flow”

Der Start an der Uni verläuft holprig. Doch davon lässt er sich nicht aufhalten. Der junge Mann findet ein Forschungsfeld und einen Mentor, von dem er lernen kann. Jacob Getzels ist ein echter Gentleman, und ein Experte im Feld der Kreativitätsforschung. Unter Getzels Fittichen publiziert Csikszentmihalyi, der mittlerweile Doktorand ist, seine ersten Veröffentlichungen [2]. Das treibt die Karriere voran, aber befriedigt ihn nicht wirklich.

Denn eines lässt ihn nicht los: Dieses Erlebnis während einer kreativen Tätigkeit, das er selbst so gut kennt. Dieser Zustand, in dem man voll und ganz im Tun aufgeht und alle Ängste und Sorgen verschwinden. Wie damals als Kind, als er in einem italienischen Gefangenenlager das Schachspiel lernte. Für seine Studien zur Kreativität beobachtet er Künstler am Chicago Art Institute. Sie scheinen ähnliches zu erleben: Wenn sie malen, fallen sie in eine Art Trance. Aber sobald das Bild fertig ist, verschwindet ihr Interesse nach wenigen Minuten. Sie sind bereits beim nächsten Projekt.

Warum kam er auf das Wort „flow”?

Sein Eindruck beschäftigte ihn weit über seine Promotion hinaus. Er ahnte, dass es mit Entwicklung, Leistung und Motivation zu tun haben muss. Aber wo liegen die Verknüpfungen? Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, hilft eine andere Umgebung. Csikszentmihalyi zog an den Michigansee. Am Lake Forest College begann er die interdisziplinäre Forschung zu einem anderen, aber bekannten Thema: dem Spiel. Vier Jahre später folgte er dem Ruf zurück in die Großstadt. Als Associate Professor an der Universität von Chicago konnte er seine Erkenntnisse wirkungsvoll in die Welt bringen.

Wie kann es sein, dass Menschen hohe Leistungen erbringen, ohne eine Belohnung zu erwarten? Warum ergibt sich aus vermeintlich sinnlosen Tätigkeiten eine innere Erfüllung? Es muss mit außergewöhnlichen Erlebnissen zu tun haben. Hier war sich Csikszentmihalyi fast sicher. Außergewöhnlich, aber nicht krank. Ganz im Gegenteil. Er befragte Kletterer, Musiker, Basketball-Spieler, Tänzerinnen und Schachspieler zu einer einzigen Frage: 

„Was erlebst du, wenn es wirklich gut läuft?”

Seine Vermutung war, dass die Antworten sehr unterschiedlich ausfallen würden. Er irrte sich. 

In der Analyse der Interview-Skripte fand er ähnliche Beschreibungen. Der Inhalt der Antworten folgte einem Muster. Die Probanden beschrieben ein Erleben, in dem man voll in dem aufgeht, was man gerade tut. Ein reizvoller Zustand, in dem das Handeln selbst motiviert — und die Belohnung danach keine Rolle spielt. Ein Interviewpartner, ein Dichter und Kletterer, formulierte sein Erlebnis beim Klettern mit den Worten: 

Der Traum des Jungen wird Wirklichkeit.

„Wie beim Dichten geht es während dem Klettern nicht um das fertige Produkt. Es geht darum, im Fließen zu bleiben, den Fluss der Tätigkeit fortzuführen”. Der Fluss und das Fließen; Csikszentmihalyi übernahm diese Schlüsselworte, um seiner Entdeckung einen Namen zu geben. Ein besseres Wort fiel ihm offenbar nicht ein: "For lack of a better term, I will refer to this experience as 'flow'" [3].

1975 veröffentlicht er zwei Publikationen, die den Traum des Jungen an der Stazione Termini wahr machten: Zuerst den Artikel „Play and intrinsic rewards” im renommierten Journal of Humanistic Psychology, herausgegeben von Abraham Maslow. Und das Buch „Beyond boredom and anxiety”, in dem er seine Forschung zum flow-Phänomen der Öffentlichkeit zugänglich machte [4]. Der Titel der deutschen Übersetzung lautet: „Das flow-Erlebnis” [5]. Beide Publikationen – eine für die breite Öffentlichkeit, eine für die Scientific Community – bilden die Grundlage für die gesamte, empirisch basierte flow-Forschung.

Woran Sie flow erkennen, ohne sich was vorzumachen:

Jeder Mensch kann flow erleben, bei prinzipiell jeder Tätigkeit. Davon war Csikszentmihalyi überzeugt. Denselben Eindruck gewinnen wir in den Veranstaltungen von NOWtation: Unsere Teilnehmer beschreiben ähnliche Erfahrungen bei verschiedenen Aktivitäten. Ähnlich wie in den Interview-Skripten des „Godfather of flow” – Mihaly Csikszentmihalyi.

Hilft beim Erkennen von flow-Zuständen: Das NOWtation-flowChart im Sinne des flow-Paten Mihaly Csikszentmihalyi. Die Details zu den einzelnen Merkmalen beschreibe ich im Blog-Text. Viel Spaß!

1. Intensive Konzentration auf das, was Sie gerade tun.

Die eigene Aufmerksamkeit wird völlig von der aktuellen Situation absorbiert. Für Csikszentmihalyi und seine Kollegin Jeanne Nakamura ist dieses Merkmal die „defining quality of flow” [6]. „Das was reinkommt, geht so durch einen durch”, beschreibt es eine Zuhörerin im Vortrag. „Ich bin voll und ganz bei dem, was ich tue… und nehme gleichzeitig wahr, was um mich herum geschieht”. Im „deep flow” ist die gesamte Bewusstseinskapazität ausgefüllt. Es ist sogar so, dass sich die Wahrnehmung ausdehnt. Es ist das Gegenteil von dem, was manche Menschen als „im Tunnel sein” erleben.

2. Denken und Handeln sind eins.

„Merging of action and awareness”, heißt es im Originaltext von 1975. Während des Tuns denkt man nicht darüber nach, wie man etwas tut. Man weiß jederzeit und ohne nachzudenken, was jetzt richtig ist. So beschreibt der deutsche Handlungspsychologe Falko Rheinberg diese Qualität [7]. Manche bezeichnen dies als intuitives Handeln, zum Beispiel mein Co-Autor Harald Philipp [8]. Ich bin da etwas vorsichtiger. Das Denken wird nicht ausgeschaltet. Was im flow-Zustand passiert, ist ein Zusammenspiel von Denken und Handeln. Diese Harmonie, wenn man so will, zeigt sich auch im Gehirn: In bildgebenden Verfahren zeigt sich ein Zusammenspiel von Top-Down- und Bottom-Up Steuerungsprozessen [9].

3. Verlust des reflexiven Ego

In einfachen Worten: Der innere Kritiker hält die Klappe. Mit dieser flapsigen Übersetzung können die meisten Menschen etwas anfangen. Dennoch birgt dieses Merkmal viel Spielraum für Missverständnisse. Leider war und ist Csikszentmihalyi in der Beschreibung sehr unpräzise. Falko Rheinberg formuliert diesen Aspekt anders, wenn auch etwas sperrig, als die „Ausblendung irrelevanter Kognitionen”. Störende Gedanken und Vorstellungen treten im flow zurück. Technisch formuliert geht es darum, dass man sich im flow nicht als getrennt von einer sozialen Umwelt erlebt. Man fühlt sich nicht bewertet. Mit Sigmund Freud gesagt: Im flow legen die Subpersönlichkeiten, die jeder Mensch in sich trägt, eine Feuerpause ein. Es herrscht Frieden im Bewusstsein.

4. Gefühl der Kontrolle über das eigene Tun

Ich betone: über das eigene Tun – um Führungskräfte mit autoritären Tendenzen in die Schranken zu weisen. Es geht nicht um die Macht über ihren Mitarbeiter oder über ein Geschehen. Im flow schweben Sie nicht über der Situation, sondern sind mittendrin. Csikszentmihalyi versteht unter Kontrolle das beruhigende Gefühl, sich und die Situation in einem lockeren Griff zu haben; nicht in einer geschlossenen Faust. Für ihn ist Kontrolle die Freiheit von Sorgen und Ängsten, dass etwas „aus dem Ruder laufen” könnte. Es geht also um die zwanghafte Beherrschung einer Situation, sondern um das Vertrauen, dass die Ereignisse in geordneten Bahnen laufen. Im flow vertrauen Sie dem Prozess.

5. Veränderung der Zeitwahrnehmung

Nach intensiven flow-Momenten ist man oft überrascht, wie lange – oder wie kurz – man mit der Tätigkeit beschäftigt war. Die eigene Zeiteinschätzung liegt weit neben der objektiven Dauer, die in Sekunden und Stunden gemessen wird: Eine Aufgabe, die zwei Stunden gedauert hat, verging „wie im Flug”. Ein Bewegungsablauf, den man beim Sport ausführt, wird im Zeitlupentempo erlebt. Im flow verändert sich aber nicht nur die Zeit-, sondern auch die Raumwahrnehmung. Seit Albert Einstein wissen wir, dass Raum und Zeit zusammenhängen. Die Physik erklärt unser NOWtation-Partner Scott Ford, in seinem Buch Integral Consciousness and Sports [10]. Baseball-Spieler berichten über die veränderte Wahrnehmung des Balls, wenn sie am Schlag sind. Obwohl das Objekt mit 150 km/h auf sie zufliegt und ihnen eine halbe Sekunde bleibt, sehen sie den Ball so groß und langsam, dass sie die Nahtstiche zählen können [11].

6. Sie erleben die Aktivität als lohnend.

Während eines flow-Zustands wird der Prozess selbst als erfüllend erlebt. Was bedeutet das? Kennen Sie den Gedanken, dass sie etwas nur tun, um sich danach besser fühlen? Gehen Sie zum Beispiel joggen, um sich danach auf dem Sofa belohnen können? Bearbeiten Sie ein Projekt der Arbeit, um dafür einen Bonus zu erhalten? Dann handeln sie extrinsisch motiviert. Sie folgen einer zweckzentrierten Motivation, einer „Um-zu-Motivation”. Wenn Sie dagegen intrinsisch motiviert sind, beziehungsweise einer tätigkeitszentrierten Motivation folgen, dann joggen Sie, weil Ihnen das Laufen Freude bereitet. Sie hängen sich ins Projekt, weil sie dabei den Teamgeist spüren – und mit Kollegen und Kunden „shared flow” Momente erleben.

Für Csikszentmihalyi ist flow ein autotelischen Erlebnis, aus dem Griechischen „auto” (selbst) und „telos” (Ziel). Im flow vollziehen wir eine Tätigkeit um ihrer selbst willen. Das Endergebnis und die Folgen helfen dem rationalen Verstand, um ins Handeln zu kommen, sind aber nicht das Motiv, um die Handlung aufrecht zu erhalten.

Müssen alle flow-Signale erfüllt sein?

Ja. Wenn Sie Ihrem flow auf die Spur kommen wollen, sollten Sie sicher gehen, dass möglichst alle Merkmale erfüllt sind. Sonst könnte es sein, dass Sie sich was vormachen. Zum Beispiel reicht eine veränderte Zeitwahrnehmung nicht aus, um von flow zu sprechen: „Hoppla, die Zeit ist um, also war ich im flow”. Nein. Auch im Drogenrausch oder bei einem Verkehrsunfall hat man ein anderes Zeitgefühl. Beides sind veränderte Bewusstseinszustände, aber kein flow-Zustand, wie er von Csikszentmihalyi definiert wurde. 

Auch in der Wissenschaft gibt es Tendenzen, das flow-Erlebnis auf wenige Anzeichen zu reduzieren [12]. Es ist leichter, ein einziges Merkmal zu messen. Valide ist es nicht. Für die pragmatische und zugleich valide Messung des flow-Erlebens empfehlen wir den Work-Related Flow Inventory (WOLF) von Arnold Bakker [13]. Sein Fragebogen nutzt drei Dimensionen, um flow bei der Arbeit zu erfassen: Absorption, Freude bei der Arbeit, und intrinsische Arbeitsmotivation. 

Doch auch im Alltag besteht der flow-Zustand nun mal aus mehreren Facetten, betont Stefan Engeser von der Uni Jena [14]. Es ist ein Missverständnis, dass man flow an einem einzigen Merkmal erkennt. Seien Sie also ehrlich mit sich selbst – und Ihrem flow. 


Quellen

[1] Csikszentmihalyi, Mihaly. (2014). Flow and the foundations of Positive Psychology. Springer.

[2] Getzels, Jacob & Csikszentmihalyi, Mihaly (1964). Creative thinking in art students. University of Chicago Press.

[3] Csikszentmihalyi, Mihaly (1975). Play and intrinsic rewards. Journal of Humanistic Psychology, 15(3), 41-63.

[4] Csikszentmihalyi, Mihaly (1975). Beyond boredom and anxiety: Experiencing flow in work and play. Jossey-Bass. 

[5] Csikszentmihalyi, Mihaly (1985). Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen. Klett-Cotta. 

[6] Nakamura, Jeanne & Csikszentmihalyi, Mihaly (2002). The concept of flow. In Snyder & Lopez (Eds.), Handbook of Positive Psychology (pp. 89-105). Oxford University Press. 

[7] Rheinberg, Falko (2010). Intrinsische Motivation und Flow-Erleben. In Heckhausen & Heckhausen, Motivation und Handeln (S. 365-387). Springer.

[8] Philipp, Harald & Sirch, Simon (2015). Flow: Warum Mountainbiken glücklich macht. Delius Klasing. 

[9] Lopata, Joel A., Nowicki, Elizabeth A., & Joanisse, Marc F. (2017). Creativity as a distinct trainable mental state. Neuropsychologia, 99, 246-258. 

[10] Ford, Scott (2016). Integral consciousness and sport: Unifying body, mind and spirit through flow. Outskirts Press. 

[11] Murphy, Michael & White Rhea A. (1995). In the Zone: Transcendent experience in sports. Penguin Books. 

[12] Schiefele, Ulrich & Raabe, Andreas (2011) Skill-demands compatibility as a determinant of flow experience in an inductive reasoning task. Psychological Reports, 109, 428-444.

[13] Bakker, Arnold B. (2008). The work-related flow inventory: Construction and initial validation of the WOLF. Journal of vocational behavior, 72(3), 400-414. 

[14] Engeser, Stefan (2012). Comments on Schiefele and Raabe (2011): Flow is a multifaceted experience defined by several components. Psychological Reports, 111(1), 24-26.