Stress und Langeweile in 7 Schritten überholen

73 Prozent der 18- bis 59-Jährigen in Deutschland erleben laut einer Studie des Forsa-Instituts „Stressgefühle”. Gehören Sie dazu? Oder haben Sie die Kunst der Tiefenentspannung bereits perfektioniert? Seien wir mal ehrlich: Jeder Mensch erlebt Spannung. Und in sieben Schritten gehen Sie besser damit um.

Schritt 1: Glauben Sie nicht alles über Burnout und Boreout. 

Burnout – und neuerdings auch Boreout – sind in aller Munde. Ein Blick in die Medien reicht aus, um dazu einen Eindruck zu gewinnen. Im Beruf scheint Stress normal zu sein; in der Freizeit mittlerweile auch. Das sei nun mal so. Die Fürsprecher der Langeweile kämpfen dagegen an: Langeweile sei enorm wichtig! Die Gegenseite wiederum sieht Langeweile als Gefahr; und hat sogar eine Diagnose dafür: das Boreout-Syndrom. 

Das Thema „Stress und Langeweile” ist so populär, dass man leicht den Überblick verliert. Deswegen biete ich eine Perspektive an, die Klärung in die Verwirrung bringt. Nicht zuletzt, um den Menschen Beachtung zu schenken, die so etwas wie Burnout selbst erfahren mussten. Manche reißen darüber zynische Witze. Doch den „Witzemachern” lege ich nahe, einem Menschen zuzuhören, der wirklich von Burnout betroffen war. Es ist nicht witzig. 

Glauben Sie also nicht alles, was jeder „Experte” von sich gibt. Und glauben Sie nicht alles, was manche Journalisten darüber schreiben. Hören Sie lieber jemandem zu, der damit wirklich Erfahrungen gemacht hat. Und prüfen Sie Ihre eigene. 

Schritt 2: Platzieren Sie Stress und Langeweile in der Psyche. 

Was heute über Stress gesagt wird, ist häufig von gestern. Unser Verständnis von Stress wird von einer Auffassung dominiert, die über 60 Jahre alt ist. Hans Seyle, der „Vater der Stressforschung”, zog seine Befunde aus der Biologie. In seinem Buch The Stress of Life (1956) beschreibt er Stress als die Reaktion eines Lebewesens auf so genannte „Stressoren”. Die Stressoren kommen aus der Umwelt und die Reaktion hat drei Stufen: Alarm, Anpassung, Erschöpfung.

Aus dieser Tradition heraus entstand ein negatives Verständnis von Stress, das unsere Kultur bis heute dominiert: Stress sei belastend, mache zwangsläufig krank und die Verantwortung dafür liege wo? – Na, bei den „Umweltreizen” — Sprich: bei „den Anderen” und den „äußeren Umständen”: beim stressigen Job, beim stressigen Kind, bei den stressigen Viren von außen.

Ja, natürlich gibt es äußere Stressoren, die bei Betroffenen massiven inneren Stress auslösen: Dazu zählt etwa der Verlust eines nahestehenden Menschen, eine Naturkatastrophe oder Gewalt. Dann spreche ich jedoch nicht mehr von Stress, sondern von Trauma. 

Mit der Langeweile ist es nicht anders als mit dem Alltagsstress. Ihre Ursachen werden gerne schnell und einseitig nach außen abgeschoben: Der Vortrag sei langweilig, das Warten sei langweilig, die Kollegin sei langweilig. Ist es für Sie unangenehm zu lesen, dass Langeweile per Definition auch mit dem Gelangweilten selbst zu tun hat? 

Geben Sie Ihrem Stresskonzept ein Update: Die neuere Forschung lokalisiert Stress und Langeweile in der Psyche, und nicht nur im Reiz-Reaktions-System des Organismus. Darauf baue ich auf. Im Modell von flow in concept werden alltägliche „Impulse” dann als Belastung erlebt, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens: Die Menge und Stärke der Impulse ist hoch genug. Und zweitens: Die Impulse werden als Belastung interpretiert.

Erst wenn ein Impuls eine ausreichende Intensität hat und Sie ihm eine bestimmte Bedeutung geben, regt sich etwas in Ihrem Bewusstsein. Und wo es Regung gibt, ist die Spannung nicht weit. 

Schritt 3: Verstehen Sie die Logik von Spannung. 

Was ist das Gegenteil von Stress? Die häufigste Antwort lautet „Entspannung“. Doch Entspannung ist eher ein Prozess als ein Zustand. Deshalb schlage ich einen Begriff mit mehr Trennschärfe vor: Das Gegenteil von Stress ist „innere Ruhe“.

Stress und innere Ruhe sind demnach entgegengesetzte Zustände. In der Elektrizitätslehre würde man sagen: Stress und Ruhe sind zwei Pole

Psychischer Stress kommt dann auf, wenn die Ladung an einem Pol dermaßen ansteigt, dass die Kapazität des Bewusstseins dort an ihre Grenzen kommt. Wenn beispielsweise in kurzer Zeit viele Emails, Aufgaben, Gedanken, Empfindungen… auf uns einströmen, dann entsteht im Bewusstsein viel Inhalt, viel Regung und viel Reibung. Stress passiert vor allem dann, wenn der Fokus der Aufmerksamkeit zu eng ist.

Am Pol der inneren Ruhe dagegen ist die Aufmerksamkeit weit gestellt. Bei derselben Anzahl von Inhalten gibt es im Ruhezustand genug Platz und im Vergleich zum Stress deutlich weniger Energieverlust durch Reibung.

Grafik 1: Bewegung entsteht durch die Wechselspannung zwischen Stress und Ruhe.

Stellen Sie sich vor: Am Stresspol erlebt man hohe Ladung, am Ruhepol wenig Ladung. Die Grafik 1 soll Ihrer Vorstellung helfen. Im Physikunterricht haben wir gelernt: Zwischen zwei Polen besteht eine Spannung. Je größer der Ladungsunterschied, desto höher die Spannung. Und Spannung ist die Ursache für Strom – also für Bewegung. 

Im Konzept von flow in concept sorgt Spannung ebenfalls für Bewegung. Dieses Modell entspricht der Dynamik des menschlichen Bewusstseins und unserer bewegten Lebenswelt deutlich mehr als ein statisches Entweder-Oder-Denken. Es erlaubt den Wechsel zwischen Stress und Ruhe, aber auch die Möglichkeit für positive und negative Entwicklung. 

Schritt 4: Unterscheiden Sie zwischen positiver und negativer Spannung. 

Stress ist nicht gleich Stress. Und innere Ruhe ist nicht dasselbe wie Langeweile. Die Unterscheidung zwischen negativem Stress und positivem Stress ist enorm wichtig. Negativ erlebter Stress wird in der neueren Psychologie als Disstress bezeichnet. Positiv erlebter Stress heißt Eustress. Die Vorsilbe „eu-“ bedeutet „schön“, „gut“ oder „reich”. 

Eustress ist ein Bewusstseinszustand mit engem Fokus, hoher Ladung und viel Reibung. Die Ähnlichkeit zum Disstress liegt darin, dass beide Zustände als Belastung erlebt werden. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass negativer Stress sinnlos erscheint, während positiver Stress mit Sinn gefüllt ist. 

Wer wenig Sinn erlebt, brennt schneller aus. Das Gefühl der Sinnlosigkeit ist das zentrale Merkmal eines Burnouts; nachzulesen im wissenschaftlichen Handbuch mit dem Titel Professional Burnout von 2017. Das Burnout-Syndrom ist eine Folge von langfristigem negativem Stress. Doch Achtung! – Auch positiver Stress kann ausbrennen, wenn Sie oft auf Hochspannung sind. 

Grafik 2: Innere Ruhe und Eustress sind positiv erlebte Zustände. Langeweile und Disstress werden negativ erlebt.

Was die Langeweile angeht, gibt es ebenfalls Klärungsbedarf. Denn derzeit gewinnt die Auffassung an Popularität, dass Langeweile „super“ sei. Mal im Ernst: Finden Sie es super, wenn Sie einen Zustand der inneren Ablehnung erleben? — eine unerfüllte Sehnsucht bei gleichzeitiger Unfähigkeit, einer befriedigenden Aktivität nachzugehen. Das ist die Definition von Langeweile. 

Bei anhaltender Langeweile steigt das Risiko, in den Boreout zu rutschen. Die seriöse Erforschung dieses Phänomens steckt noch in den Kinderschuhen. Management-Forscher haben es 2008 zum ersten Mal benannt. Die zentralen Merkmale von Boreout sind Langeweile, Stillstand im persönlichen Wachstum und wieder: das Gefühl der Sinnlosigkeit.

Schritt 5: Finden Sie Ihr typisches Muster.

Sinn existiert nicht einfach so – weder im Beruf noch im Privatleben. Der Psychologe Viktor Frankl betonte immer wieder, dass Sinn nicht von außen kommt, sondern von Menschen gegeben oder gesehen werden muss. Nun sind Menschen verschieden und geben unterschiedlichen Ereignissen verschiedene Bedeutungen. Was zum Beispiel bei mir negativen Stress auslöst, muss Sie nicht aus der Ruhe bringen. 

In diesem Fall hätten wir verschiedene Deutungsmuster. Mit flow in concept arbeite ich mit vier typischen Mustern: sie heißen Aktionist, Organisator, Gemeinschafter und Visionär. Um ein Beispiel zu nennen: Mein Organisator ist stark ausgeprägt. Das heißt, ich suche nach Zusammenhängen. Und ich gerate unter negativen Stress, wenn eine Person widersprüchliche Aussagen macht. Wenn ich dagegen unter Menschen bin, die auf Worte entsprechende Taten folgen lassen, dann hebt mich das in den oberen Bereich von Abbildung 2: in das positive Spannungsfeld zwischen Eustress und innerer Ruhe.

Ihr Typus bestimmt maßgeblich, wann Sie in Ihren positiven Bereich kommen – und in Ihre flow-Momente. 
 

Schritt 6: Orientieren Sie sich an flow-Erlebnissen. 

Ist flow dasselbe wie positiver Stress? – Nein, aber Eustress ist ein guter Ausgangspunkt für flow-Erlebnisse: für jene Momente der völligen Klarheit, in denen man eine starke Verbundenheit mit der Aufgabe erlebt, die man gerade bearbeitet. Das sind jene Momente, in denen Handlungen leicht und wirkungsvoll von der Hand gehen; in denen man das Gefühl hat, dass man hier und jetzt genau richtig ist; dass das, was man gerade tut, Sinn macht. 

Aha, dann ist flow dasselbe wie innere Ruhe? Nein, aber die Ausbildung eines inneren Ruhepols erhöht die Wahrscheinlichkeit für flow-Erlebnisse. Menschen mit innerer Ruhe sehen in vielen Ereignissen und Erlebnissen einen höheren Sinn. Athleten zum Beispiel, die an etwas Größeres glauben, kommen häufiger in die Zone. Das belegt die empirische Studie der Sportwissenschaftlerinnen Kathleen Dillon und Jennifer Tate.

Grafik 3: In flow-Momenten erlebt man Spannung und Ruhe zugleich.

Grafik 3: In flow-Momenten erlebt man Spannung und Ruhe zugleich.

Im flow erlebt man weder Ruhe noch Stress. Man erlebt beides zugleich. Denn flow ist ein Zustand, in dem sich die Gegensätze auflösen. Die Bewusstseinsforschung nennt flow deshalb einen „nondualen Zustand“. Man erlebt keine Zweiheit, keine Gegensätzlichkeit. 

Im flow hat man weder Angst vor der Zukunft noch hängt man an der Vergangenheit. Im flow-Zustand sind Sie total in der Gegenwart. Viele Menschen berichten im Zusammenhang mit flow-Momenten von einer „Veränderung des Zeitgefühls“ – aus einem einfachen Grund: Im flow erleben Sie keinen Zeitdruck und Stress. Sie nehmen sich aber auch keine ruhige Auszeit, kein „Time-Out“. Sie sind schlichtweg „in der Zeit“. Das Bewusstsein nimmt sich eine „Inzeit“: ein „Time-In“.

Was wäre, wenn Sie Ihr Spannungsmanagement auf diese Momente ausrichten? 

Schritt 7: Erweitern und ordnen Sie Ihre Kapazität. 

Alarm, Anpassung, Erschöpfung. Vor dieser Abwärtsspirale steht jeder, der Spannung fehlerhaft interpretiert und keine Strategien ausbildet, um sie typgerecht und situativ zu regulieren. Leider statten sich die wenigsten Menschen mit wirksamen Coping-Methoden aus. Viele der beliebtesten Entspannungsstrategien, die im Auftrag der Techniker Krankenkasse 2016 in Deutschland erhoben wurden, sind meines Erachtens Ablenkungsstrategien: Shopping, Computerspiele, Fernsehen und Alkohol mögen kurzfristige Erleichterung bringen, doch ihr nachhaltiger Effekt für Gesundheit und persönliches Wachstum ist gering.

Die wirksamsten Werkzeuge zur Spannungsregulation setzen an den Kapazitäten an, die Sie immer dabei haben. Dazu zählen Ihr Körper, Ihr Verstand und Ihre Fähigkeit zum Kontakt. Auf diese drei Ebenen zielen die folgenden Praxistipps: 

  • Denken Sie in Gegensätzen. Wer in Polaritäten denkt, hat mehr Spielraum im Bewusstsein. Der Gegenpol zum positiven Stress ist innere Ruhe. Das Gegenteil zum positiven Umgang damit ist die negative Ablehnung. Sie haben die Wahl, wohin Sie sich wenden. Der menschliche Verstand denkt so lange einseitig, bis wir es anders lernen.

  • Beziehen Sie Ihren Körper mit ein. Unser Alltag ist stark „kopflastig“. Die meisten Jobs erfordern Denkarbeit, aber unser Verstand ist begrenzt! Erkennen Sie deshalb Ihren Körper als wertvolle Ressource und integrieren Sie Bewegung und Körperwahrnehmung in Ihr Spannungsmanagement. Damit lassen sich auch Distress und Langeweile wirkungsvoll regulieren.

  • Schaffen Sie Platz in Ihrem Bewusstsein. Die Erweiterung des Bewusstseins liegt so hoch Trend, dass manche auf Drogen zurückgreifen. Doch Weitung alleine reicht nicht aus – und birgt die Gefahr, sich zu verirren. Ich mache einen Vergleich: Wer in eine größere Wohnung zieht, ohne seinen Krempel auszumisten und zu ordnen, der wird im neuen Heim noch mehr umherirren. Auch der „Innenraum” des Bewusstseins braucht Ordnung. Dabei helfen Modelle, die vollständig und praxisnah sind – wie das Modell von flow in concept.

  • Fragen Sie nach Ihrem größeren Sinn. Wie tragen Sie mit Freude zu etwas bei, das größer ist als Sie? – Wenn Sie diese Frage von Herzen beantworten können, ist Ihr Risiko für Burnout und Boreout gering. Das Größere kann vieles sein: Ihre Familie, ihr wertebewusstes Unternehmen, das Wohl der Kinder auf diesem Planeten… . Wofür leben Sie – und wie?

  • Gönnen Sie sich Unterstützung. Denn allein ist jeder Anfang schwer. Da geht es Ihnen nicht anders wie mir. Deswegen biete ich mit flow in concept Vorträge, Workshops und Coachings zum Thema Spannungsmanagement – weil das bei jedem Schritt auf die Sprünge hilft.


Simon Sirch