Warum Achtsamkeit in Unternehmen gegen flow verliert – Endstand 1:3

Die Mitarbeiterin eines Pharma-Unternehmens erzählte mir, dass in ihrer Mindfulness-Fortbildung zwei Folien zum Thema flow gezeigt wurden. Moment mal, dachte ich, das müsste doch eigentlich umgekehrt sein: Besser wären zwei Folien Achtsamkeit und viele Folien flow. Welche Vorteile bringt Achtsamkeit, wenn flow – sofern überhaupt – nur am Rande behandelt wird?

In diesem Telefonat blieb meine Skepsis verborgen. Im Gespräch mit einer HR-Verantwortlichen der Automobil-Branche konnte ich nicht anders: „Wir führen jetzt Achtsamkeit ein”, sagte sie. Meine Frage nach dem Warum wurde beantwortet mit: „Andere machen es auch”. Ich kann mein Stirnrunzeln schwer kontrollieren – trotz jahrelanger Achtsamkeitspraxis.

Komplexe Welt, einfache Achtsamkeit?

Wenige Unternehmen haben verstanden, dass Einzelmaßnahmen den Unternehmenserfolg weder direkt noch nachhaltig beeinflussen. Auch dann nicht, wenn sie gut gemeint sind; und erst recht nicht, wenn sie schlecht kommuniziert sind. Die komplexen Herausforderungen der VUCA-Welt erfordern Maßnahmen, die systemisch zusammenspielen und präziser kommuniziert werden.

Hier geht es um das Zusammenspiel zwischen flow, Achtsamkeit und Ergebnissen auf dem Feld des Unternehmens. Oder wird es ein Gegenspiel?

Achtsamkeit gegen flow im Business

Dieser Beitrag setzt flow und Achtsamkeit in den sportlichen Vergleich. Ich zeige auf, warum flow in der Hinrunde als Sieger vom Platz geht. Dazu grenze ich die beiden Konzepte voneinander ab, kläre die Zusammenhänge und gebe Hinweise für HR-Verantwortliche und Mindfulness-Coaches. Wer weiß, vielleicht könnte es in der Rückrunde auf ein Win-Win hinauslaufen.

Wer macht das heutige Spiel? Achtsamkeit als Übung und Absicht – oder flow als positiver Bewusstseinszustand während einer Tätigkeit.

Achtsamkeit: nach innen gerichtet und rezeptiv

Achtsamkeit ist im allgemeinen Verständnis eine Zusammenstellung von Praktiken. Achtsamkeit hat das Ziel, das Erleben eines Menschen positiv zu verändern. Zu den Praktiken zählen Meditation, Yoga oder Wahrnehmungsübungen. In einem tieferen Verständnis steht hinter Achtsamkeit eine innere Haltung; eine mentale Ausrichtung der Akzeptanz und der nicht-reaktiven Bewertung. Manche Achtsamkeitslehrer betonen die „wertfreie Haltung”. Ich halte das für Bullshit. Jeder Mensch bewertet! Selbst das Postulat der Wertfreiheit beinhaltet eine Wertung, aber das nur am Rande.

Mindfulness ist eine innenorientierte Praxis und rezeptive Haltung. Das reicht aus, um die Seiten zu klären. Weitere Bedeutungen finden Sie im Glossar.

flow: zielgerichtet und aktiv

flow steht auf der anderen Seite des Spielfelds. Der flow-Zustand ist ein Bewusstseinszustand, der während jeder Tätigkeit auftreten kann. Jeder Mensch erlebt flow-Zustände, denn es handelt sich um einen natürlichen Zustand – ohne Drogen und so. flow wird positiv erlebt und seit 1975 als Quelle intrinsischer Motivation wissenschaftlich untersucht. Die flow-Forschung in der Tradition von Mihaly Csikszentmihalyi befasst sich mit den Bedingungen und Wirkungen von flow-Erleben.

0:1 — Achtsamkeit liefert keine objektiven Ergebnisse

Anpfiff! – Im Unterschied zu Mindfulness hat flow eine aktive Komponente: Da flow bei zielgerichteten Aktivitäten auftritt, werden objektiv überprüfbare Ergebnisse produziert.

Achtsamkeit übt die nicht-reaktive Wahrnehmung innerer Vorgänge, zum Beispiel von Empfindungen und Gedanken. Aber Innenorientierung liefert noch keine Ergebnisse für ein Unternehmen. Ergebnisse entstehen durch Handlungen, die äußere Umstände verändern. Achtsamkeit allein leistet das nicht. So schnell kassiert man ein (Eigen)Tor.

Die Umsetzung von achtsamen Beobachtungen in wirksame Handlungen bedarf eines Bindeglieds, das die Innenwelt des subjektiven Erlebens mit der Außenwelt des objektiven Handelns verknüpft.

0:2 — flow liefert das Bindeglied

Mit anderen Worten: Es bedarf eines Spielmachers, der achtsame Wahrnehmung und Erkenntnis in unmittelbare Handlungen transformiert. Das leistet ein aufgeklärter flow-Zustand. Die flow-Zustände der Mitarbeiter sind das „Missing Link” zwischen Mindfulness und objektiven Ergebnissen. „TOOOOOR für flow”.

Denn flow ist — in Anlehnung an die psychologische Forschung — ein mentaler Zustand, in dem Menschen bessere Ergebnisse erzielen als im Normalzustand. Reduzierte Anstrengung, gesteigerte Qualität des Produkts, erhöhte Zufriedenheit des Kunden nach dem Servicegespräch — all das sind objektive Ergebnisse, auf die flow einen nachgewiesenen Einfluss hat. Diese Wirkungen beschreibe ich im vorigen Blog.

Halbzeit: „flow bringt Unternehmen mehr als Achtsamkeit”

So würde ein parteiischer Kommentator den Zwischenstand zusammenfassen: flow-Zustände haben im direkten Vergleich mit Achtsamkeit mehr Effekt auf die Wertschöpfung von Unternehmen. Hat Achtsamkeit überhaupt einen Wert? In der Pause hört man auf den Rängen rege Diskussionen.

Schauen wir uns die zweite Halbzeit an.

1:2 — Achtsamkeit als Stellschraube für flow-Zustände

Gleich nach der Pause kommt der Konter. Achtsamkeit erhöht nachweislich die Wahrscheinlichkeit von flow-Zuständen. Wie kann das sein? Spielen die beiden jetzt zusammen? Ja, denn flow entsteht durch die optimale Bündelung von Aufmerksamkeit.

Die gezielte Übung der Aufmerksamkeitslenkung, etwa durch Meditation, ist ein Mittel, um flow im Job herbeizuführen. Deswegen konzipiere ich Achtsamkeitsübungen als eine von mehreren „flow-Stellschrauben”. Den genauen Zusammenhang erkläre ich im Whitepaper.

Das Spiel bleibt spannend.

Fehler in der Kommunikation: Foul und gelbe Karte

Doch leider ist die berufliche Realität oft eine andere. Wenn das Thema Achtsamkeit in Unternehmen eingeführt wird, handelt es sich in der Regel um gut gemeinte, aber isolierte Einzelmaßnahmen. Der übergreifende Sinn wird selten verstanden und noch seltener kommuniziert. Wenn ich Schiedsrichter wäre, würde ich eine Mahnung aussprechen. Als Berater gebe ich einen freundlichen Hinweis.

Apropos Sinn: Aus der Forschung wissen wir, dass flow zur direkten Sinnstiftung beiträgt. Aber nicht automatisch. Mitarbeiter müssen den Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und Unternehmenserfolg verstehen. Sinn bildet sich immer aus der Verknüpfung mehrerer Elemente. Die Elemente heißen 1. Achtsamkeit, 2. Unternehmenserfolg, und 3. flow als Bindeglied.

1:3 — flow ist anschlussfähiger als Achtsamkeit

Wenn ich an Achtsamkeit denke, sehe ich mich auf dem Meditationskissen sitzen. Das ist ziemlich anstrengend. Wenn ich an flow denke, sehe ich mich auf dem Mountainbike durch den Wald flitzen oder mit Kunden Lösungen finden. Auch das ist anstrengend, aber es produziert Ergebnisse und macht Freude.

Kurzum: Mit flow kann jeder etwas anfangen, mit Achtsamkeit nicht. flow erhöht auf drei Punkte.

Viele Mitarbeiter aus einer leistungsorientierten Unternehmenskultur reagieren mit Skepsis, wenn ich das Wort „Achtsamkeit” nur ausspreche. Und das, obwohl ich mit einem tragbaren EEG-Gerät die Auswirkungen gezielter Aufmerksamkeitslenkung live demonstriere. Leider haben einige Achtsamkeits-Ideologen die Akzeptanz des Themas eher verringert als erhöht.

Wenn ich allerdings die Merkmale des flow-Zustands erkläre, kann jede Person daran anknüpfen. Zwar sind die Bedingungen für flow komplexer als das Thema Achtsamkeit, doch für die interne Kommunikation ist ein aufgeklärtes flow-Konzept besser geeignet.

Schlusspfiff. Im Nullsummenspiel gewinnt flow 3:1 gegen Achtsamkeit.

flow-Zustände sind das “Missing Link” zwischen Achtsamkeit und besseren Ergebnissen. Als eine “Stellschraube für flow” verhilft Achtsamkeit den Mitarbeitern in den flow-Kanal.

Die Win-Lose-Perspektive

Das Fazit des Kommentators kommt schnell: Unternehmen profitieren mehr von der flow-Thematik als von Achtsamkeit. flow-Zustände treten per Definition bei Tätigkeiten auf, die Ergebnisse liefern. Somit tragen sie direkt zur Wertschöpfung des Unternehmens bei.

Psychologische und neurowissenschaftliche Forschungen untermauern die positive Auswirkung von flow auf arbeitsrelevante Faktoren wie Effizienz, Kreativität, Flexibilität und Sinnstiftung. Achtsamkeit dagegen ist innenorientiert. Die Ausrichtung nach innen produziert keine direkten objektiven Ergebnisse für Unternehmen.

Außerdem schließt die flow-Thematik enger an den Berufsalltag und die Lebenswelt der Mitarbeiter an. Man kann sich damit leichter identifizieren als mit Atmung, Klangschalen und Stille.

Die Win-Win-Perspektive

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Die genaue Betrachtung des Zusammenspiels zwischen flow und Achtsamkeit zeigt interessante Wechselwirkungen.

Achtsamkeit ist – erstens – einer von mehreren Ansätzen, um die Wahrscheinlichkeit von flow-Zuständen gezielt zu erhöhen. Allerdings ist dafür alltagstaugliches flow-Wissen notwendig.

Zweitens eröffnet die flow-Thematik das Thema Achtsamkeit für Mitarbeiter. Es ist ein Anreiz, Achtsamkeit zu üben, wenn flow und bessere Ergebnisse wahrscheinlicher werden. Aus meiner Erfahrung heraus greift dieses Argument besonders gut, wenn das Mindset der Mitarbeiter auf einer Ebene schwingt, die Spiral Dynamics und das Integrale Modell mit „Orange” bezeichnet. Ein Mindset auf Orange „tickt” in kausalen Zusammenhängen und sichtbaren Ergebnissen. Also lassen Sie uns die Menschen dort abholen, wo sie stehen.

Empfehlungen für CEOs, Coaches und HR

Wenn Sie als Geschäftsführung Achtsamkeit einführen oder vertiefen möchten, empfehle ich einen Integralen Ansatz: Der höchste Return on Investment ist einem Programm zu erwarten, das Achtsamkeit mit flow-Zuständen verknüpft und schrittweise in Prozesse und Strukturen integriert. Strategie, Kultur und Skills werden davon profitieren.

Vor diesem Hintergrund empfehle ich HR-Verantwortlichen und Mindfulness-Trainern, den „Faktor flow” stärker zu betonen. Die Aufklärung und Nutzung von positiven Zuständen ist Bestandteil einer ganzheitlichen Personalentwicklung.

Führungskräften empfehle ich, die naheliegenden flow-Stellschrauben in die tägliche Führungsarbeit zu integrieren. Beginnen Sie bei sich und verfeinern Sie Ihr Händchen für die Zustände Ihrer Mitarbeiter.

Dann gewinnen alle.


Banner Photo by Tyler Nix on Unsplash

Simon Sirch